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Bijlage
5
J.
Ortega y Gasset
ÜBER
DEN BLICKPUNKT IN DER KUNST
Sobre
el punto de vista en las artes (1924)
I
Historie,
so wie sie sein soll, ist eine Art Filmproduktion. Sie ist nicht damit zufrieden,
an dem jeweiligen historismen Punkt Quartier zu beziehen und die geistige
Landsmaft zu betrachten, die es dort zu sehen gibt; nein, sie setzt auch an die
Stelle jener Reihe statischer Einzelbilder, deren jedes in sich geschlossen ist,
das Bild eines Bewegungsablaufs. Nun zeigt es sich, dass die bisher
unzusammenhangenden "Ansichten" auseinander hervor- und ohne
Unterbrechung ineinander übergehen. Die Wirklichkeit, die einen Augenblick lang
aus einer unendlichen Zahl kristallisierter Tatsachen, reglos in ihrer
Erstarrung, zu bestehen schien, zerschmilzt, verflüssigt sich und rinnt dahin
wie ein Strom. Nicht das Datum, nicht die Begebenheit, nicht die Tatsache macht
die eigentliche historisme Realitat aus, sondern die Entwicklung, die sich aus
der Verflüssigung und Verschmelzung dies er Materialien auf- baut. Die
Geschichte schafft Bewegung, und aus dem Reglosen wird ein Ruheloses.
II
lm
Museum konserviert man mit Hilfe von Firnis den Leichnam einer Entwicklung. In
ihm steckt der Strom all des Malerbemühens, das Jahrhundert für Jahrhundert
vom Menschen ausging. Urn diese Entwicklung zu konservieren, musste man sie auflösen,
zerreiben, aufs neue in Bruchstücke zerlegen und zum Gefrieren bringen wie in
einem Kühlhaus. Jedes Bild ist ein Kristall von unverrückbarer und
unverweckselbarer Linienführung, eine von allen übrigen Bildern geschiedene,
hermetisch abgeschlossene Insel.
Und
dennoch wäre es nicht schwer, den Leichnam wieder zum Leben zu erwecken. Man hätte
nur die Bilder in eine bestimmte Ordnung zu bringen und wenn nicht den Blick, so
doch die Gedanken rasch über sie hingleiten zu lassen. Dann würde ersichtlich,
dass die Entwicklung der Malerei von Giotto bis auf unsere Tage ein einziger,
einfacher Bewegungsablauf ist, der seinen Beginn und sein Ende hat. Es überrascht
einen, dass die Wandlungen der Malkunst in unserer abendländischen Welt einem
so simplen Gesetz gehorchten. Und das Seltsamste, das Beunruhigendste ist die
Analogie zwischen diesem Gesetz und demjenigen, das für die Geschichte der
europaischen Philosophie massgebend war. Diese Gemeinsamkeit zwischen den beiden
Bereichen kulturellen Schaffens, die am weitesten auseinanderliegen, lasst einen
vermuten, dass es ein noch umfassenderes, ein allgemeines Prinzip geben muss,
das der gesamten Entwicklung des europaischen Geistes zugrunde liegt. An dieses
ferne Geheimnis aber will ich mich heute nicht heranwagen, sondern möchte
vorerst nur jene sechs Jahrhunderte währende Bewegung zu deuten versuchen, die
sich Geschichte der abendländischen Malerei nennt.
III
Bewegung
setzt etwas Bewegliches voraus. Was aber bewegt sich bei der Entwicklung der
Malerei? Ein jedes Bild ist eine Momentaufnahme, in der das Bewegliche scheinbar
zum Stehen kam. Was ist das bewegliche Element in der Malerei? Man suche nun
nicht nach etwas sehr Kompliziertem. Was in der Malerei einer Verlagerung
unterworfen ist und dadurch die VielfaIt der Aspekte und Stilarten hervorbringt,
ist ganz einfach der Blickpunkt des Malers.
Und
das ist ganz natürlich. Der abstrakte Begriff ist an keinen Ort gebunden. Das
gleichschenklige Dreieck hat immer dasselbe Aussehen, ob es auf dem Sirius oder
auf unserer Erde gedacht wird. Dagegen ist jedes sinnlich wahrnehmbare Bild an
das unerbittliche Nur seiner örtlichen Bedingtheit gefesselt, das heisst, es
stellt etwas dar, das von einem ganz bestimmten Blickpunkt aus gesehen ist.
Diese Ortsgebundenheit des sinnlich Wahrnehmbaren kann mehr oder minder streng
sein, unmöglich aber ist, dass sie fehlt. Die Spitze eines Turmes oder das
Segel auf dem Meer zeigt sich uns in einem Abstand, den wir mit einer den Bedürfnissen
der Praxis genügenden Genauigkeit abschätzen. Der Mond aber oder die blaue Fläche
des Himmels präsentiert sich in einer Distanz, zu deren Wesen es gehört,
undeutlich zu sein. Wir konnen nicht sagen, dass Mond oder Himmel soundsoviel
Kilometer weit weg sind; ihr Ort innerhalb der Entfernung bleibt undeutlich,
aber Undeutlichkeit heisst noch nicht Unbestimmtheit.
Für
den Gesichtspunkt des Malers jedoch ist nicht die geodätisdie Quantität,
sondern die optische Qualität der Entfernung massgebend. Nähe und Ferne, die
in metrischer Beziehung relative Merkmale sind, können für die Augen absoluten
Wert annehmen. Wenn die Physiologie von Nahsicht und Fernsicht spricht, so
handelt es sich hierbei nicht um metrisch bedingte Begriffe, sondern um zwei
verschiedene Betrachtungsweisen.
IV
Führen
wir einen Gegenstand, etwa eine Vase, hinreichend nah an unsere Augen heran, so
konvergieren sie auf ihm. Das Gesichtsfeld erhält dann eine ganz besondere
Struktur. In der Mitte befindet sich, von unserem Blick fixiert, der Gegenstand
unserer Aufmerksamkeit; seine Gestalt tritt klar, vollständig umrissen und mit
all ihren Einzelheiten in Erscheinung. Rings um ihn, bis an den Rand des
Gesichtsfeldes hin, ist eine Zone, die wir zwar nicht betrachten, aber doch
indirekt, verschwommen und beilaufig sehen. Alles, was in diese Zone fällt,
scheint hinter dem Gegenstand zu liegen; darum nennen wir es Hintergrund. Dort
erscheint alles unscharf, kaum erkenntlich und ohne ausgesprochene Form: es
wirkt eher wie eine Anzahl undeutlicher Farbkleckse. Würde es sich nicht um
bekannte Dinge handeln, so wäre es unmöglich zu sagen, was wir bei dieser
mittelbaren Schau eigentlich sehen. Die Nahsicht also ordnet das Gesichtsfeld
und errichtet dort eine optische Hierarchie: ein im Mittelpunkt stehendes
privilegiertes Sehding hebt sich aus seiner Umgebung heraus. Dieser nahe
Gegenstand ist der Held des Gesichtsfeldes, die Hauptfigur, die über die Menge,
die visuelle Plebs, den Chor der ringsum vorhandenen Dinge des Kosmos emporragt.
Dem
halte man die Fernsicht gegenüber. Statt irgendeinen nahen Gegenstand zu
fixieren, lassen wir bei der Fernsicht den ruhenden, aber ungebundenen Blick
seinen Radius bis an die Grenze des Gesichtsfeldes ausdehnen. Was geschieht? Die
hierarchische Zweigliederung verschwindet. Das Gesichtsfeld wird homogen. Man
sieht nun nicht mehr ein bestimmtes Ding gut und das übrige minder klar, nein,
alles prasentiert sich nun gleichartig wie in einer optischen Demokratie. Nichts
ist scharf urnrissen, alles ist Hintergrund, ist unscharf, ist beinahe formlos.
An die Stelle der Zweiteilung ist die vollständige Einheit des gesamten
Gesichtsfeldes Getreten.
V
Zu
diesen Verschiedenheiten der Betrachtungsweise kommt noch eine ungleiche
bedeutungsvollere hinzu. Wenn wir die Vase aus der Nähe betrachten, so prallt
unser Sehstrahl auf den am weitesten vorspringenden Teil ihrer Wölbung auf, und
als würde er bei diesem Anprall zersplittern, teilt er sich in eine grosse Zahl
von Fangarmen, die den Seiten der Vase entlangzugleiten, ihre Rundung zu
umklammern, von ihr Besitz zu ergreifen, sie herauszustreichen scheinen. So
kommt es, dass ein, aus grosser Nähe geschauter Gegenstand jene
unbeschreibliche Körperlichkeit und Sollidität erlangt, wie sie einer Masse
eigen sind. Wir sehen lhn räumlich, konvex. Wird nun aber der nämliche
Gegenstand in den Hintergrund, den Bereich der Fernsicht, gerückt, so verliert
er diese Körperlichkeit, Solidität und Fülle. Er ist nicht länger eine
kompakte, deutlich gerundete Masse mit vorspringender Wölbung und geschwungenen
Seiten; nein, er hat nun seine Räumlichkeit eingebüsst und ist zu einer
inkonsistenten Fläche, zu einem körperlosen Gespenst geworden, das nur aus
Licht besteht.
Charakteristikurn
der Nahsicht ist die Greifbarkeit. Wenn der Blick auf einem nahen Gegenstand
konvergiert, was für ein geheimnisvolles Nachgefühl hinterlässt ihm dann
diese Berührung? Diesem Geheimnis wollen wir heute nicht zu Leibe rücken,
sondern nur auf die geradezu greifbare Dichte hinweisen, die unserern Sehstrahle
eignet und es ihm möglich macht, die Vase zu umfassen, sie abzutasten. Je
weiter der Gegenstand entfernt ist, um so mehr geht dem Blick die Eigenschaft
der tastenden Hand verloren, urn so mehr wird er zur blossen schau. Ebenso hören
die Dinge, wenn sie in die Ferne rücken, auf, kompakte Massen zu sein, und
werden zu blossen Farberscheinungen ohne Festigkeit und Wölbung: Kraft einer
jahrtausendealten, in den praktischen Erfordernissen des Daseins begrundeten
Gewohnheit betrachtet der Mensch einen Gegenstand nur dann als ein Ding im
eigentlichen Sinne, wenn dieser vermöge seiner Festigkeit sich seinen Handen
entgegenstellt. Alles andere ist mehr oder minder geisterhaft. Geht nun aber ein
Sehding aus dem Bereich der Nahsicht in den der Fernsicht hinüber, so wird es
tatsächlich zu einem Phantom. Ist die Entfernung sehr gross, so nehmen am Rand
des Horizonts alle Dinge –ob Baum, Burg oder Bergkette - den geradezu
unwirklichen Charakter von Erscheinungen an, die einer jenseitigen Welt zugehören.
VI
Eine
letzte und entscheidende Feststellung: Wenn wir der Nahsicht die Fernsicht gegenüberhalten,
so soll damit nicht gesagt sein, dass wir in dieser einen Gegenstand entfernter
sehen als in jener. Betrachten heisst hier nur, dass man die
Sehstrahlen
in einem Punkt zusammenlaufen lässt, der dank dieses Umstandes ein begünstigter,
privilegierter Punkt ist. In der Fernsicht betrachten wir keinen bestimmten
Punkt, sondern versuchen, unser gesamtes Gesichtsfeld, einschliesslich seiner Ränder,
zu erfassen. Aus diesem Grunde vermeiden wir je de mögliche Konvergenz. Und
dann stellen wir zu unserer Überraschung fest, dass das wahrgenommene Objekt,
das heisst die Gesamtheit unseres Gesichtsfeldes, konkav ist. Wenn wir im Innern
unserer Wohnung sind, so endet die Konkavität an der gegenüberliegenden Wand,
an der Decke, am Fussboden, und die sie begrenzende Fläche zeigt die Tendenz,
die Gestalt einer von innen gesehenen Halbkugel anzunehmen. Wo aber ist der
Anfang der wahrgenommenen Höhlung? Ohne Zweifel in unseren Augen.
Das
in Fernsicht Geschaute ist also ein Hohlraum; und nicht die Fläche, die ihn
begrenzt, sondern er selbst bildet von unserem Augapfel bis zur Wand oder zum
Horizont hin den Inhalt unserer Wahrnehmung. Dies aber nötigt uns, das folgende
Paradox anzuerkennen: In der Fernsicht ist das geschaute Objekt nicht weiter von
uns entfernt als in der Nahsicht, im Gegenteil, es ist uns näher, da es ja
bereits auf unserer Hornhaut beginnt. In der reinen Fernsicht beschränkt sich
unsere Aufmerksamkeit, statt weiter auszugreifen, auf das absolut Nächstliegende,
und unser Sehstrahl dringt, statt auf die Wölbung eines festen Körpers
aufzuprallen und daran haften zu bleiben, in ein konkaves Objekt ein, er gleitet
durch einen Hohlraum.
VII
In
der europaischen Kunst ist im Lauf der Geschichte der Blick des Malers von der
Nahsicht zur Fernsicht hinübergewechselt; die Malerei, die bei Giotto als
Darstellung des Massiven beginnt, wird im Zuge dieser Entwicklung zu einer
Malerei des Hohlraums.
Dies
aber bedeutet, dass die Sehweise des Malers eine Wandlung durchmacht, die
keineswegs zufällig ist. zunächst gilt die Aufmerksamkeit dem Körper oder der
Masse des Gegenständes, dann dem, was zwischen Körper und Auge ist, will
sagen, dem Hohlraum. Da dies er sich aber vor den Körpern befindet, heisst das:
die Wandlung, die mit dem Blick des Malers vor sich geht, besteht in einem Zurückweichen
vom Entfernten (und doch Nahen) auf das unmittelbar am Auge Beginnende.
Somit
wäre also die Entwicklung der abendländischen Malerei nichts anderes als eine
Rückzugsbewegung vom gemalten Objekt auf das malende Subjekt. Davon, dass
dieses Gesetz tatsächlich für die Evolution der Malerei massgebend war, kann
sich der Leser selbst überzeugen, wenn er deren Geschichte durch die Zeiten hin
verfolgt. lm werde hier nur ein paar wenige Beispiele bringen, die auf dem
Gesamtwege jeweils eine Etappe darstellen. .
VIII
15.
Jahrhundert. Flamen und Italiener pflegen mit fanatischer Hingegebenheit die
Malerei des Massiven. Man kann fast sagen, sie malen mit der ganzen Hand. Jeder
Gegenstand tritt unmissverständlich Körperhaft, fest und greifbar in
Erscheinung. Er ist mit einer geglätteten Haut überzogen, auf der es keine
Poren und trüben Stellen gibt und der es offenbar Freude macht, auf runde
Massivität hinzudeuten. Bei der Behandlung der Dinge des Vorder- und
Hintergrundes kennt man keinen Unterschied. Der Künstler begnügt sich damit,
das Entfernte kleiner wiederzugeben als das Nahe, aber die Malweise ist in
beiden Fällen die gleiche. Der Unterschied zwischen Vorder- und Hintergrund ist
also ein rein abstrakter und wird allein durch eometrisch Perspektivierung
erzeugt. Was die Malarbeit betrifft, ist auf diesen Bildern alles Vordergrund,
das heisst, alles ist aus der Nähe gemalt. Die kleine Figur, die man ganz in
der Ferne erblickt, ist so vollständig, so abgerundet und deutlich wie die
Hauptfiguren. Man konnte glauben, der Maler sei bis zu der entfernten Stelle
hingegangen, an der sie steht, und habe sie dort in der Ferne aus der Nähe
gemalt.
Es
ist indessen unmöglich, verschiedene Gegenstände gleidtzeitig aus der Nähe zu
betrachten. Der Blick muss von dem einen zum anderen hinübergleiten und sie
sukzessive zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit machen. Das heisst: auf dem
primitiven Gemälde gibt es nicht nur einen Gesichtspunkt, es gibt deren so
viele, wie es auf dem Bilde Gegenstände gibt. Das Bild ist nicht als Einheit,
sondern als Vielheit gemalt. Keines seiner Stücke steht in Beziehung zu einem
anderen; ein jedes ist in sich vollkommen und selbständig. Darum findet sich,
wenn man ein Bild der einen oder der anderen Richtung -der Malerei des Massiven
oder der des Hohlraums -zuordnen soll, kein besseres Kriterium, als eine
Einzelpartie herauszugreifen und sich zu fragen, ob sie, vom Ganzen losgelöst,
einige Selbständigkeit aufzuweisen hat. Auf einem Bild von Velázquez zum
Beispiel enthalten die Einzelstücke nur immer verschwommene und missgestaltete
Formen.
Das
primitive Bild ist gewissermassen nur die Summe vieler kleiner Einzelbilder,
deren jedes seine Selbständigkeit hat und von einem nahen Gesichtspunkt aus
gemalt ist. Der Maler hat einen alles andere ausschliessenden, zergliedernden
Blick auf jeden der dargesteIlten Gegenstände geworfen. Daher jene vergnügliche
Reichhaltigkeit der Gemälde des 15. Jahrhunderts. Wir werden mit dem Betrachten
nie fertig. Denn immer wieder entdecken wir in ihnen irgendein kleines
Einzelbildchen, das wir bis jetzt übersehen hatten. Eine Gesamtschau des Bildes
dagegen ist unmöglich. Unsere Pupille muss Schritt für Schritt über die
bemalte Fläche hinwandern und an eben den Blickpunkten verweilen, die sich der
Maler nach und nach gewählt hat.
IX
Renaissance.
Uneingeschränkte Herrschaft der Nahsicht; denn jeder Gegenstand wird einzeln
erfasst und von den übrigen gesondert. Raffael ändert diesen Blickpunkt nicht,
aber er bringt in das Gemälde ein abstraktes Element hinein, das diesem eine
gewisse Einheitlichkeit verleiht: die Komposition oder den Bildaufbau.
Auch
er malt Gegenstand um Gegenstand wie einer der Primitiven, und sein Sehapparat
arbeitet nach dem gleichen Prinzip. Aber er begnügt sich nicht mehr damit, das,
was er sieht, in naiver Weise zu malen, wie er es sieht, sondern unterwirft das
Ganze einer fremden Kraft dem geometrischen Begriff der Einheit. Auf die
analytischen Formen der Gegenstände legt sich gebieterisch die synthetische
Form des Bildaufbaus, die keine sichtbar-gegenständliche ist, sondern ein rein
gedankliches Schema. (Das nämliche gilt für die dreieckigen Bilder Leonardos.)
Die Malerei des Raffael kommt noch nicht von einem einzigen Gesichtspunkt her
und kann auch nicht unter einem solchen betrachtet werden, aber es steckt in ihr
bereits die rationale Forderung nach Einheitlichkeit.
X
Übergang.
Auf dem Weg, der uns von den Primitiven und der Renaissance zu Velázquez führt,
bilden die Venezianer, vor allem aber Tintoretto und El Greco, eine
Zwischenstation. Wie sollen wir sie charakterisieren? In Tintoretto und El Greco
stossen zwei Zeitalter aufeinander, daher die Unruhe, die innere Erregung, die
das Werk dieser beiden Künstler durchbebt. Sie sind die letzten Vertreter der
Malerei des Massiven, und als solche ahnen sie bereits die Zukunftsprobleme des
hohlen Raumes voraus, rücken ihnen allerdings nicht recht zu Leibe.
Die
venezianische Malerei neigt seit ihrem Beginn dazu, die Dinge aus der Ferne zu
sehen. Bei Giorgione und Tizian will alles Körperliche seine Dichte und
Festigkeit verlieren, und es möchte verschweben wie Wolken, flatternde Bänder
oder sich auflösende Materie. Zur endgültigen Abkehr vom nahen und
analytischen Gesichtspunkt aber
fehlt die rechte Entschlusskraft. Ein ganzes Jahrhundert hindurch ringen die
beiden Prinzipien miteinander, ohne dass das eine oder das andere sich
durchsetzen würde. Tintoretto ist ein extremes Beispiel fur diesen inneren
Kampf, in dem die Fernsicht nun beinahe obgesiegt hat. Auf seinen Gemälden im
Escorial konstruiert er gewaltige Leerräume. Er muss sich dabei aber auf die Krücken
der architektonischen Perspektive stützen. Wären da nicht allerlei
Saulenreihen und Gesimse, deren Linien auf den Hintergrund des Bildes zufliehen,
so wurde Tintorettos Malerei sich im Abgrund des hohlen Raumes verlieren, den
sie zu schaffen trachtet.
Eher
bedeutet Greco ein Zurückweichen. Aber ich glaube trotzdem, dass man seine
Neuartigkeit und Velázquez-Nähe übertrieben hat. Denn es kommt auch bei ihm
noch immer in erster Linie auf die Körperhaftigkeit an, was uns dadurch
bewiesen wird, dass er allgemein
als der letzte grosse Vertreter der verkürzten Perspektive gilt. Er tendiert
nicht nach dem Hohlraum; das Streben nach dem Körperhaften, Massiven dauert bei
ihm fort. Wahrend Velázquez, etwa auf den Gemälden der Meninas und der
Spinnerinnen, seine gesamten Figuren auf die rechte oder linke Seite verweist,
die Mitte aber frei lasst, als sei der Raum dort die eigentliche Hauptfigur des
Bildes, bedeckt Greco jeweils die ganze Leinwand mit Körpermassen, die alle
Luft wegnehmen. Auf seinen Gemälden drängt sich durchweg das Fleisch. Und doch
wird durch Werke wie die Auferstehung oder der Gekreuzigte mit einer seltenen
Eindringlichkeit das Problem der Tiefenwirkung aufgeworfen.
Es
wäre indessen ein Irrtum, wenn man die Malerei der Tiefenwirkung mit der des
Hohlraums oder der leeren Konkavität verwechseln wollte. Nein, jene ist nur
eine klugere Methode, das Massive herauszustellen. Diese hingegen bedeutet einen
ganzlichen Umschwung in der künstlerischen Zielsetzung.
Bei
Greco geschieht aber etwas anderes: der dargestellten Gegenstände bemächtigt
sich das architektonische Prinzip und zwingt sie mit einer Gewaltsamkeit
ohnegleichen ausnahmslos unter sein Idealschema. Die analytische Sehweise, die
den Körperhaften zugewandt ist und einer jeden Einzelfigur mit einer geradezu
einseitigen Liebe begegnet, verliert durch diese synthetische Tendenz ihre
Unmittelbarkeit, ja wird geradezu aufgehoben. Das dynamische Formschema, dem das
Bild unterworfen ist, nötigt dieses zur Einheitlichkeit und ermöglicht einen
Pseudogesichtspunkt. Ausserdem kündigt sich bei Greco bereits ein zweites
vereinheitlichendes Element an: das Helldunkel.
XI
Die
Meister des Helldunkel. Die Bildkomposition Raffaels, das dynamische Formschema
Grecos sind Einheitlichkeitspostulate, die der Künstler an sein Bild stellt,
weiter nichts. Jedes Ding, das wir auf dem Gemälde sehen, bestätigt uns auch
weiterhin, dass es körperhaft und infolgedessen selbständig und
partikularistisch ist.
Jene
Vereinheitlichungen sind also von der nämlichen abstrakten Herkunft wie die
geometrische Perspektive der primitiven Malerei. Als Geschöpfe der reinen
Vernunft erweisen sie sich unfähig, den Stoff des Gemäldes durchzuformen, oder
anders gesagt: sie sind keine Malprinzipien. Die einzelnen Teile des Werkes
werden sämtlich ohne ihre Mitwirkung gemalt.
Demgegenüber
bedeutet das Helldunkel eine radikale, tiefgreifende Neuerung. Wenn das Auge des
Malers die Körperlichkeit der Dinge sucht, so wird jeder einzelne Gegenstand,
der auf der bemalten Fläche wohnt, seinen besonderen, alleinigen und
privilegierten Blickpunkt beanspruchen. Das Bild wird dann von einer
feudalstaatlichen Verfassung beherrscht, in der jeder Einzelteil seine persönlichen
Rechte geltend macht. Nun aber schleicht sich ein neuer Gegenstand ein, ausgerüstet
mit einer magischen Kraft, die es ihm gestattet, ja zur pflicht macht,
allgegenwartig zu sein, den gesamten Raum der Leinwand einzunehmen, ohne die übrigen
Dinge daraus zu verdrängen. Dieser magische Gegenstand ist das Licht. Es ist
innerhalb der Bildkomposition ein einziges und einmaliges Ganzes. Wir haben es
in ihm mit einem vereinheitlichenden Prinzip zu tun, das nicht abstrakt ist,
sondern real, Ding unter Dingen, und weder Idee noch Schema. Die Einheit der
Beleuchtung beziehungsweise das Helldunkel lässt nur noch einen einzigen
Gesichtspunkt zu. Der Maler muss sein gesamtes Werk eingetaucht sehen in den
umfassenden Gegenstand Licht.
Dies
gilt für Ribera, Caravaggio und den jungen Velázquez (Anbetung der Könige).
Noch trachtet man, dem überkommenen Brauche folgend, nach Körperhaftigkeit.
Aber sie ist nicht mehr von vordringlicher Bedeutung. Der Gegenstand als solcher
wird mehr und mehr ausser acht gelassen, und seine Funktion erschöpft sich
nachgerade darin, Träger und Gründlage zu sein für das Licht, das auf ihn fällt.
Man verfolgt die Bahn des Lichtes und beobachtet mit verweilender Aufmerksamkeit,
wie es über die Oberfläche der Massen, der Körper, gleitet.
Erkennt
der Leser, was für eine Verlagerung des Gesichtspunktes dies bedeutet? Der Velázquez
der Anbetung der Könige heftet seinen Blick nicht auf den Körper als solchen,
sondern auf dessen Oberfläche, auf der das Licht aufprallt und sich spiegelt.
Es hat also eine Zurücknahme des Blickes stattgefunden; er gleicht nicht langer
einer Hand und entlässt den gewolbten Körper aus der Umklammerung. Der
Sehstrahl halt dort inne, wo der Körper beginnt und das Licht blitzend
auftrifft; von hier aber sucht er sich einen anderen Platz auf irgendeinem
anderen Gegenstande aus, wo eine ähnlich intensive Beleuchtung vibriert. Es
kommt zu einer magischen Solldarität aller hellen Partien des Gemäldes den
dunklen gegenüber. Dinge, die ihrer Form und Beschaffenheit nun ganz ungleich
sind, erweisen sich nun als gleichwertig. Die individualistische Vorherrschaft
der Dinge hat ein Ende. Man nimmt an ihnen nicht länger um ihrer selbst willen
Anteil; sie sind nur mehr der Vorwand für andere Dinge.
XII
Velázquez.
Dem Halbdunkel ist es zu verdanken, dass die Einheit , des Gemäldes eine innere
ist und nicht nur durch äusserliche Mittel zustande kommt. Jedoch sind unter
dem Licht auch weiterhin die Körperhaften Massen verborgen. Die Malerei des
Massiven lebt unter dem schimmernden Sleier der Beleuchtung fort.
Um
diesen Zwiespalt zu überwinden, bedürfte es eines genialen Verachters, der
entschlossen war, den Körpern alle Aufmerksamkeit zu entziehen, ihren Anspruch
auf Konsistenz rundweg abzulehnen und ihre aufdringliche Massivitat einzuebnen.
Dieser geniale Verächter war Velázquez.
In
den Körper des Objekts verliebt, sendet der Primitive diesem seinen
handgreiflichen Blick entgegen, tastet ihn ab und umarmt ihn voll innerer
Erregung. Der Maler des Helldunkel, der vom Massiven bereits eine lauere
Auffassung hat, lässt seinen Blick wie auf einer Schiene auf dem Lichtstrahl
dahingleiten, der von Ding zu Ding wandert. Velázquez vollbringt in gewaltiger
Kühnheit die grosse Tat der Verächtung, der es bestimmt ist, eine neue Malerei
heraufzuführen: er hält seine Pupille an. Nichts weiter.
Hierin
besteht die ganze riesenhafte Revolution. Bis dahin hatte das Auge des Malers,
sklavisch einer bestimmten Bahn folgend, einen jeden Gegenstand nach ptolemäischem
Prinzip umkreist. Nun aber fasst Velázquez den despotischen Beschluss, den
Gesichtspunkt festzulegen. Das ganze Bild hat aus einem einzigen Sehakt
hervorzugehen, und die Dinge haben ihr möglichstes zu tun, um dem Blick
entgegenzukommen. Es handelt sich also um eine kopernikanische Umwälzung, wie
sie sich in der Philosophie unter dem Einfluss von Descartes, Hume und Kant ganz
ähnlich vollzogen hat. Das Auge des Kunstlers nimmt die Mitte der plastischen
Welt ein, rings umflutet von den Formen der Gegenstände. Der Sehapparat aber
wirft seinen Blick geradewegs nach der einen oder anderen Seite hin, ohne
irgendein Ding zu bevorzugen. Prallt der Blick auf etwas auf, so bleibt er daran
nicht haften, und infolgedessen wird aus diesem Etwas keine gewölbte Masse,
sondern nichts als eine Oberfläche, von welcher der Blick aufgefangen wird.
Der
Gesichtspunkt ist zurückgewichen, hat sich von dem Objekt entfernt, und von der
Nahsicht sind wir zu der Fernsicht übergegangen, die allerdings, strenggenommen,
ein näheres Objekt hat als jene. Zwischen die Körper und das Auge tritt der
unmittelbar nächste Gegenstand, der Hohlraum, die Luft. In ihr schwebend und in
Farbnebel, formlose Andeutungen, blosse Reflexe aufgelöst, haben die Dinge ihre
Konsistenz und ihren Urnriss verloren.
Der
Maler hat seinen Kopf zurückgeworfen, hat seine Augelider
zusammengekniffen und zwischen ihnen die eigentliche Form eines jeden
Gegenständes zerquetscht, sie auf Lichtmoleküle und reine Farbpunkte reduziert.
Dafür aber kann sein Bild nun von einem einzigen Blickpunkt her und in allen
seinen Teilen gleichzeitig gesehen werden.
Der
Nahblick dissoziiert, unterscheidet, hat feudalen Charakter. Der Fernblick
synthetisiert, lässt zerfliessen, verwischt die Grenzen, ist demokratisch. Der
Gesichtspunkt wird zur Zusammenschau. Die Malerei des Massiven hat sich endgültig
in eine Malerei des Hohlraums verwandelt.
XIII
lmpressionismus.
Unnötig zu sagen, dass in Velázquez die mässigenden Grundsätze der
Renaissance fortwirken. In seiner ganzen Krassheit tritt der Umschwung erst bei
den Impressionisten und Neoimpressionisten zutage.Oben, beim Darlegen der
Voraussetzungen, konnte vielleicht der Anschein aufkommen, als sei in dem
Augenblick, in dem wir bei der Malerei des Hohlraums angelangt sind, die
Entwicklung abgeschlossen, als habe der Gesichtspunkt, wenn er einmal aus einern
nahen und vielfachen zu einem fernen und einzigen geworden ist, den gesamten
moglichen Weg zurückgelegt. Dem ist nicht so. Wir werden sogleich sehen, dass
er noch mehr gegen das Subjekt hin zurückweichen kann. Die Verlagerung ist
zwischen 1870 und heute weitergegangen, und gerade irn unwahrscheinlichen und
widerspruchsvollen Wesen dieser letzten Entwicklungsabschnitte bestätigt sich
das sibyllinische Gesetz, auf das ich eingangs hingewiesen habe. Der Künstler,
der von der Welt rings um ihn seinen Ausgang genommen hat, zieht sich am Ende
auf sich selbst zurück.
Ich
habe gesagt: wenn der Blick des Velázquez auf einen Gegenstand auftrifft, so
verwandelt er diesen in Oberfläche. Aber unterdessen ist der Sehstrahl seinen
Weg gegangen und hat Vergnügen daran gefunden, die Luft, die zwischen der
Hornhaut und den entfernten Dingen flutet, zu durchbohren. Auf den Bildern der
Meninas und der Spinnerinnen sieht man, wieviel Genuss es dem Künstler bereitet
haben muss, den Hohlraum als solchen hervorzuheben. Velázquez blickt geradewegs
in den Hintergrund; darum stösst er auf die gewaltige Luftmasse, die sich
zwischen ihm und den Grenzen seines
Gesichtsfeldes befindet. Dieses Blicken mit dem zentralen Sehstrahl des Auges
ist der Vorgang, der als geradlinige Schau, als Sehen in modo recto bezeichnet
wird. Aber rings um die Hauptachse sendet die Pupille noch viele andere Strahlen
aus, die einen schrägen Verlauf nehmen, also in modo obliquo sehen. Der
Eindruck der Hohlheit entsteht beim geradlinigen Sehen. Wenn wir diese Art des
Sehens unmöglich machen (etwa durch sukzessives Schliessen und Öffnen der
Augen), So bleibt nur die schräge Sicht erhlten, jenes "Aus-dem-Augenwinkel-Blichen",
das der Inbegriff der Verächtlichkeit ist. Der Hohlraum verschwindet dann, und
das ganze Gesichtsfeld zeigt die Tendenz, zu einer Fläche zu werden.
Eben
dies geschtieht nacheinander in den verschiedenen Impressionismen. Der
Hintergrund des Velázquezschen Hohlraums wird in den Vordergrund gerückt, und
dieser hört auf, Vordergrund zu sein, weil es keinen Hintergrund mehr gibt. Die
Malerei neigt dazu, flächenhaft zu werden wie die Leinwand, auf die man sie
aufträgt. So kommt es denn zur Aufhebung jeglicher greifbaren und Körperhaften
Nachhaltigkeit. Andererseits aber werden bei Schrägsicht die Dinge dermassen
atomatisiert, dass kaum etwas von ihnen übrigbleibt. Die Figuren werden
unkenntlich. Statt die Dinge zu malen, wie man sie sieht, malt man das Sehen
selbst, statt eines Gegenstands einen Eindruck, das heisst eine Handvoll
Empfindungen. Somit hat sich die Kunst gänzlich von der Welt zurückgezogen und
wendet ihre Aufmerksamkeit dem Tun des Subjekts zu. Die Ermfindungen sind in
keiner Beziehung mehr Dinge, sie sind subjektive Zustände, durch die hindurch
und mit deren Hilfe die Dinge sich uns zeigen.
Wird
es klar, was für eine Veränderung des Gesichtspunktes dies alles bedeutet? Es
scheint so, als sei der Gesichtspunkt, wie er nach dem nächstgelegenen
Gegenstande suchte, so nah wie möglich an das Subjekt heran- und so weit wie möglich
von den Dingen abgerückt. Aber das ist ein Irrtum. Der Gesichtspunkt schreitet
auf seinem unerbittlichen Rückzugswege weiter. Er macht durchaus nicht an der
Hornhaut halt, sondern überquert kühn die grosse Grenze und dringt in den
Innenbezirk des Schauens, in das Subjekt selber ein.
XIV
Kubismus.
Mitten in der impressionistischen Tradition stehend, entdeckt Cézanne die Körperhaftigkeit
der Dinge. Auf den Bildern tauchen nun Kuben, Zylinder, Kegel auf. Einer, der
nicht bei der Sache wäre, könnte glauben, an einem toten Punkte angekommen,
beginne die Malerei ihre Reise von vorn, und man sei zum Blickpunkt Giottos zurückgekehrt.
Aber auch dies wäre ein Irrtum. In der Geschichte der Malerei hat es zu allen
Zeiten Nebenströmungen gegeben, die zum Archaischen hinstrebten. Die Hauptströmung
jedoch schiesst in prachtvollem Schwall über sie hinweg und nimmt ihren
unvermeidlichen Lauf.
Der
Kubismus Cézannes und der eigentlichen Kubisten, das heisst der stereometrismen
Maler, ist nur ein weiterer Schritt einer verinnerlichten Malerei entgegen. Die
Empfindungen, das Thema der impressionistischen Kunst, sind Zustande des
Subjekts, also reale Fakten, tatsächliche Veränderungen, die sich in jenem
vollziehen. Noch weiter innen haben die Ideen ihren Sitz. Auch sie sind
wirkliches Geschehen, das sich in der Seele des Individuums abspielt,
unterscheiden sich aber von den Empfindungen insofern, als ihr Inhalt- das
Erdachte -irreal, unter Umständen sogar unmoglich ist. Wenn im mir einen streng
geometrismen Zylinder denke, so ist mein Denken eine in meinem Innern sich
vollziehende Tatsache, der geometrisme Zylinder aber, den im denke, ist ein
irrealer Gegenstand. Ideen sind also subjetive Realitäten mit virtuellem Objekt,
eine vollig neue Welt, verschieden von der, welche die Augen uns vermitteln, und
wunderbar emporsteigend aus den Tiefen der Seele.
Die
Körpermassen aber, wie Cézanne sie darstellt, haben nichts mit den von Giotto
entdeckten zu tun; sie sind deren genaues Gegenteil. Giotto sucht nach der jedem
Gegenstände eigenen Massivität, nach der ganz realen, greifbaren Körperhaftigkeit.
Vor ihm kannte man nur das zweidimensionale Bild byzantinischen Stils. Cézanne
hingegen ersetzt die Körper der Dinge durch irreale Massen, die reine Erfindung
sind und mit jenen nur in metaphorischem Zusammenhang stehen. Seither malt man
nurmehr Ideen, die natürlich ebenfalls Objekte sind, aber ideelle, dem Subjekt
immanente, intrasubjektive Objekte.
So
erklärt es sich, weshalb allen irrigen Erklärungen zum Trotz jenes unklare
Etwas, das man Kubismus nennt, einen solchen Mischmasch darstellt. Picasso malt
einerseits Körper, an denen sich die Gewölbtheit der Masse in höchstem Masse
zu bestätigen scheint, daneben aber vernichtet er auf seinen skandalösesten,
aber auch typischisten Bildern die geschlossene Form des Objekts und deutet Stücke
davon – eine Augenbraue, einen Schnurrbart, eine Nase - in euklidischer
Verebnung an, dies alles nur zu dem Zwecke, den Ideen als symbolische Chiffre zu
dienen.
Der
so vieldeutige Kubismus ist nichts weiter als eine besondere Malweise innerhalb
des gleichzeitigen Expressionismus. Bei den Impressionisten war die aussere
Objektivität auf ihrem Minimum angelangt. Eine weitere Verlagerung des
Blickpunktes war nur noch möglich, wenn die Malerei über die Netzhaut, jene
hauchdünne Grenze Zwischen Aussen und Innen, hinwegsprang und - in gänzlicher
Umkehrung ihrer bisherigen Funktion -uns nicht mehr in das ausserhalb
Befindliche hineinversetzte, sondern sich darum bemühte, die Dinge des Inneren,
die erdachten Gegenstände, auf die Leinwand zu bringen. Man beachte, wie durch
ein einfaches Weiterrücken des Gesichtspunktes auf ein und derselben Bahn, die
er von Anfang an verfolgt hat, nun ein umgekehrtes Ergebnis zustande kommt:
statt die Dinge in sich einzusaugen, werden die Augen zu Projektoren, welche die
landschaft und Fauna der Innenwelt nam aussen werfen. Zuvor wären sie Tauchier,
die sich in die reale Welt versenkten; nun sind sie Springquellen der
Unwirklichkeit.
Es
mag sein, dass die gegenwärtige Kunst nur geringen asthetischen Wert besitzt;
wer in ihr aber nur eine Caprice sieht, der kann gewiss sein, dass er weder sie
noch die alte Kunst verstanden hat. lm Lauf ihrer Entwicklung hat die Malerei (und
die Kunst uberhaupt) unausweichlich-schicksalhaft zu dem werden müssen, was sie
heute ist.
XV
Das
Gesetz, das über den grossen Veränderungen der Malerei waltet, ist von
beunruhigender Einfachheit. Erst malt man Dinge, dann Empfindungen, zuletzt
Ideen, das heisst, die Aufmerksamkeit des Malers heftet sich zunächst auf die
äussere Wirklichkeit, hernach auf das Subjektive und schliesslich auf das
Intrasubjektive. Diese drei Stationen sind Punkte, die auf ein und derselben
Linie Liegen. Nun aber ist die abendländische Philosophie denselben Weg
gegangen wie die Malerei: eine Übereinstimmung, durch die das besagte
Entwicklungsgesetz nur noch beunruhigender wird. Wir wollen in ein paar wenigen
Zeilen diesen seltsamen Parallelismus aufzeichnen.
Der
Maler stellt zunächst die Frage, welche Elemente des Alls auf die Leinwand übertragen
werden sollen, das heisst, welche Art Erscheinungen für die Malerei wesentlich
sind. Der Philosoph hinwiederum fragt, welche Art Gegenstände die grundlegenden
sind. Ein philosophisches System ist immer der versuch einer begrifflichen
Neusschöpfung des Kosmos, wobei man von einem bestimmten Typ Tatsachen ausgeht,
die man für die gesichertsten und verlässlichsten hält. Jede Epoche der
Philosophie hat einem anderen Typ den Vorzug gegeben und auf ihm ihr übriges
Gebäude errichtet.
Zur
Zeit Giottos, des Malers der festen und selbständigen Körper, war die
Philosophie der Ansicht, dass die Individualsubstanzen die letzte und endgültige
Wirklichkeit seien. Schulbeispiele für Substanzen waren damals: dies Pferd,
dieser Mensch. Warum glaubte man, gerade hierin den letzten metaphysismen Wert
zu erblicken? Ganz einfach deshalb, weil nach der ursprünglichen und
praktischen Vorstellungsweise jedes Pferd und ieder Mensch ihr besonderes, von
den übrigen Dingen und dem betrachtenden Verstand unabhängiges Dasein zu haben
scheinen. Das Pferd ist ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Wesen, das
aus der geheimen Kraft seines Inneren lebt; wollen wir es kennenlernen, so müssen
unsere Sinne, unser Verstand ihm entgegengehen und es demütig umkreisen. Da
haben wir denn den substantialistischen Realismus Dantes, einen Zwillingsbruder
der von Giotto ins Leben gerufenen Malerei des Massiven.
Machen
wir einen Sprung zum Jahr 1600, dem Zeitpunkt, an dem die Malerei des Hohlraums
beginnt! Die Philosophie steht unter der Herrschaft Descartes'. Was ist für ihn
die kosmische Realität? Die vielfachen und selbständigen Substanzen treten zurück,
und im Vordergrund der Metaphysik erscheint nun eine einzige Substanz, eine Art
metaphysischen Hohlraums, der eine magische Schöpferkraft besitzen wird. Für
Descartes ist der Raum das Wirkliche, so wie für Velázquez das Hohle das
Wirkliche ist.
In
der Zeit nach Descartes taucht bei Leibniz einen Augenblick lang aufs neue die
Vielheit der Substanzen auf. Aber diese Substanzen sind kein Körperliches
Prinzip mehr, sondern das genaue Gegenteil: sie sind Subjekte, und die einzelne
Monade hat -seltsames Charakteristikum! -nur die Aufgabe, ein Blickpunkt zu
sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie wird hier die formelle
Forderung laut, dass die Wissenschaft ein System sein solle, welches das
Universum unter einen Gesichtspunkt zu stellen hat. Die Monade hat keine andere
Funktion, als dieser vereinheitlichen Sicht einen metaphysischen Ort zuzuweisen.
In
den beiden folgenden Jahrhunderten wird der Subjektivismus radikaler, und um
1880, als die Impressionisten nur noch Empfindungen auf die Leinwand bannen, lässt
die Philosophie des extremen Positivismus die universelle Wirklichkeit nur in
Empfindungen bestehen. Die fortschreitende Entwirklichung der Welt, die im
Denken der Renaissance begonnen hat, gelangt mit dem radikalen Sensuaüsmus der
A venarius und Madl zu ihrer letzten Konsequenz. Wie soll es weitergehen? Was für
eine neue Philosophie ist noch möglich? An eine Rückkehr zum primitiven
Realismus ist nicht zu denken; vier Jahrhunderte der Kritik, des Zweifels, des
Misstrauens haben ihm seinen Wert genommen. Ebenso unmöglich aber ist es,
weiterhin beim Subjektiven zu bleiben. Wo findet sich dann noch etwas, womit die
Welt sich neu erbauen lässt?
Der
Philosoph zieht seinen Blick noch weiter zurück, und statt ihn auf das
Subjektive als solches zu lenken, heftet er ihn auf das, was bislang als der
"Bewusstseinsinhalt" bezeichnet wurde, auf das Intrasubjektive. Dem,
was unsere Ideen ersinnen und unsere Gedanken denken, kann nichts Wirkliches
entsprechen, trotzdem aber ist das Ersonnene darum nichts ausschliesslich
Subjektives.
Eine
Welt der Hirngespinste würde dennoch nicht aufhören, eine Welt, ein objektives
Universum voll Sinn und Perfektion zu sein. Der Zentaur ist zwar ein
Phantasiegebilde und wird niemals mit wehendem Schweif und Zottelhaar über eine
wirkliche Wiese galoppieren, besitzt aber nichtsdestoweniger dem Subjekt gegenüber,
das ihn sich vorstellt, ein unabhängiges Eigendasein. Er ist ein virtueller
Gegenstand oder, wie die jüngste Philosophie sagen würde: ein Idealobjekt. Und
damit sind wir bei dem Typ von Erscheinungen angelangt, die der Denker unserer
Tage fur die geeignetste Grundlage seines Weltsystems hält. Ist sie nicht
verbluffend, die Übereinstimmung zwischen dieser Art Philosophie und der
gleichzeitigen Malerei, mag man sie nun Expressionismus oder Kubismus nennen?
José Ortega y Gasset
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© Canandanann 20-09-2006 16:58:03
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